Johannes Grenzfurthner, Lotek64-Lesern in Zusammenhang mit dem Film Die Gstettensaga und den in Sowjet-Unterzögersdorf angesiedelten Point-and-Klick-Adventures bekannt, war ein Nerd von Weltrang, bevor dieses Wort Eingang in unseren Wortschatz fand. In Traceroute nimmt er uns auf einen Road Trip durch sein eigenes Leben und durch die USA mit.
„Being a nerd is not about what you love; it’s about how you love it.“
Wil Wheaton
Traceroute beginnt im beschaulichen Niederösterreich der 1970er-Jahre. „Austria is primarily known for music and mass murder. A culturally challenged country deep in the heart of darkness“, charakterisiert Grenzfurthner eine Vision seiner Heimat, die er bereits 2014 im Endzeitfilm Die Gstettensaga: The Rise of Echselfriedl auf die Kinoleinwand gebracht hat.
Der den Film eröffnende Spaziergang durch das Fotoalbum der Familie Grenzfurthner weist erschreckend viel Wiedererkennungswert auf, ich spreche von meinem eigenen Leben. Ich bin im gleichen Land aufgewachsen, und das nur drei Jahre zuvor in den bleiernen 80ern, als die Welt zumindest in Österreich in einem ewigen Stillstand zu verharren schien. Disneys „Lustige Taschenbücher“, Mondstaub, Dinosaurier und Urmenschen, das P.M. Magazin, Kryptozoologie und Cyberpunk: Das waren und sind die konstituierenden Elemente einer Nerdkarriere.
Es mag seiner Geburt im Jahr 1975 geschuldet sein, dass Johannes Grenzfurthner als Teenager den Commodore 64 nicht gebührend zu würdigen weiß. Er hatte zwar Zugang zu diesem elektronischen Grundbaustein unzähliger Lebensentwürfe, verfiel der Heimcomputerei aber erst, als er einen IBM-PC in seine Finger bekam, der ihm als Plattform für Adventures aus dem Hause Sierra On-Line diente. Im Alter von 13 Jahren entdeckt er das Mailboxnetz FidoNet, da war vom Internet noch lange keine Rede. Kann es eine glücklichere Kindheit geben?
Die folgenden Jahrzehnte verbringt Grenzfurthner mit der Gründung der Gruppe monochrom, wird Allround-Künstler, lehrt an Hochschulen in Linz und Graz und leitet unter anderem das Festival Arse Elektronika („Konferenz für Sex und Technologie“). Mit 40 beschließt er, andere Vertreter seiner Spezies zu besuchen und begibt sich auf eine lange Reise durch die USA. Begleitet von einer kleinen Filmcrew, die alle Stationen der Expedition auf Speicherkarte festhält, durchkämmt er in wochenlanger Schwerarbeit das flächenmäßig drittgrößte Land der Erde von West nach Ost, um uns an die Sehnsuchtsorte seiner Interessen und Obsessionen zu entführen.
In hoher Dichte gibt der Film wieder, was den beneidenswert produktiven Nerd geprägt hat und heute ausmacht. Amateurfunker, „tote Medien“, die Area 51, Sextoys für Nerds, Meteoritenkrater, Navajo-Funker – Johannes Grenzfurthner ist in Fahrt, gönnt uns bei seinen vielen Zwischenstationen kaum eine Pause, füllt selbst die kurzen Momente, in denen das Auto zum nächsten Schauplatz und/oder Interview rollt, mit interessanten Anekdoten. Der Text entwickelt sich zu einer hyperlinkfreien Enzyklopädie des Nerdtums. Manche Gesprächspartner gehen es etwas geruhsamer an, dann bleibt dem Zuseher ein kurzer Moment zum Verdauen.
Irgendwann zwischen der Cowboy Church von Durango und dem Besuch bei Bruce Sterling, der unter anderem The Hacker Crackdown (1992) geschrieben hat, ein einflussreiches und seit 1994 frei im Netz verfügbares Buch über die Hackerkultur in den USA und deren strafrechtliche Verfolgung, etwa in der groß angelegten „Operation Sundevil“ im Jahr 1990, macht der Miniaturtross in Almagordo (New Mexico) Halt. Dort wurde nicht nur die erste Atombombe gezündet, auch der spektakuläre Zusammenbruch des Konsolenmarktes im Jahr 1983 fand dort seinen symbolträchtigen Höhepunkt, als 700.000 unverkäufliche Atari-2600-Cartridges (E.T. – aber die Geschichte kennt ohnehin jeder) auf einer Mülldeponie vergraben wurden. Lange Zeit wurde die Geschichte in der Community angezweifelt, bis 2014 unter großer öffentlicher Anteilnahme 1300 Exemplare aus der oberen Schicht entnommen wurden.
Pen-and-Paper-Spiele dürfen ebensowenig fehlen wie ein Besuch im texanischen Waco, wo 1993 beim Versuch einer FBI-Einheit, den selbst ernannten Propheten David Koresh zu verhaften, 80 Menschen ums Leben kamen. Nächster Halt beim Monroeville Mall (Pittsburgh): Hier wurde 1978 George Romeros Zombie-Klassiker Dawn of the Dead gedreht. Höhlensysteme, „Sex-Geek“ Kit Stubbs, der Grabstein von H.P. Lovecraft, eine Sammlung alter Technologien (Stichwort: Disketten), rasant reisen wir mit dem Erzähler durch Zeit und Raum und steuern auf das große Finale zu, als Grenzfurthner einen Special-Effects-Künstler besucht, der ihm… nein, Spoileralarm! Für das Finale nach dem Finale gibt es noch eine Portion Kubrick, erst dann darf der Kopf wieder abkühlen.
Traceroute ist ein persönlicher und autobiografischer Film, dessen Publikum Elemente der eigenen Biografie wiederfinden wird. Der Film ist sehr viel mehr als ein Einblick in die Welt von Freaks, die ihre Finger nicht von ihren alten Computern lassen können. Denn: „Beim Nerd-Sein geht es nicht darum, was du verehrst, sondern wie du es verehrst.“ Zum Beispiel durch eine anstrengende, lange und unbedingt sehenswerte Pilgerreise durch die Vereinigten Staaten. (gf)
Traceroute, USA/A 2016, Johannes Grenzfurthner, 120 Minuten; zu sehen am:
19.5.2016 – Votivkino Wien (Ethnocineca Festival)
3.6.2016 – Top Kino Wien (Austrian Filmfestival)
Weitere Termine in Deutschland, Japan, USA, Israel auf der Webseite des Films.